Lucien Durosoir, geboren 1878, schlug zunächst eine Geigerlaufbahn ein, bevor er sich der Komposition widmete. In Deutschland, wo er seine Technik bei grossen Meistern wie Joseph Joachim und Hugo Heermann vollendete, fand seine Kunst zuerst Anerkennung. Schon 1899 unternahm er Tourneen durch ganz Zentraleuropa, Russland, Deutschland und das ungarisch-österreichische Reich. Zum ersten Mal konnten dort Werke französischer Musik (Saint-Saëns, Lalo, Widor, Bruneau) gehört werden, sowie in Wien die Sonate in A-Dur für Violine und Klavier von Gabriel Fauré. Umgekehrt nutzte er seine Tourneen durch Frankreich, um in Erstaufführung grosse Werke des ausländischen Repertoires zu interpretieren : 1899 in der "Salle Pleyel" das Konzert in d-moll von Niels Gade, 1903 in der "Salle des Agriculteurs" das Violinkonzert von Richard Strauss, sowie das von Brahms.
Überall klang die Kritik anerkennend : "...schlägt das Publikum in seinen Bann durch die Erhabenheit und den Schwung seines Spiels" (Neue freie Presse, 11. Januar 1910). "Alle diese Stücke wurden mit der selben noblen und schönen Spielart aufgeführt" (Wiener Mittags-Zeitung, 28. Januar 1910). "Er hat im Konzert von Max Bruch die seltensten Qualitäten von Klangschönheit und Musikalität gezeigt, und im Konzert von Dvorak einen ausserordentlichen Stil und erstaunliche Virtuosität. Herr Lucien Durosoir hat bei dieser Aufführung gezeigt, dass er zu den besten Virtuosen seiner Zeit gehört" (Le Figaro, 19. Mai 1904).
Der Krieg hat dieser Karriere schlagartig ein Ende bereitet : er diente während der ganzen Kriegszeit in der 5. Division, die an den blutigsten Episoden teilnahm (Douaumont, Le Chemin des Dames, Les Eparges). Der General Mangin, mit seinem ausgeprägten Sinn für Prestige, begünstigte die Gründung eines Quartetts um Lucien Durosoir als erste Geige ; Henri Lemoine spielte die zweite Geige, der Komponist André Caplet die Bratsche und Maurice Maréchal spielte den "Poilu", das berühmte aus einer Munitionskiste hergestellte Cello..., das die Unterschriften von Foch, Pétain, Mangin und Gouraud trägt ! Dieses Instrument wird heute im Pariser Instrumentenmuseum, dem "Musée instrumental de la Cité de la Musique", aufbewahrt.
Abwechselnd Infanterist, Musiker, Bahrenträger und Brieftaubenzüchter, schrieb Lucien Durosoir jeden Tag seiner Mutter, und mehr als zweitausend Briefe sind uns noch erhalten geblieben.. Es sind Briefe, die einerseits einige der schrecklichsten Ereignisse des ersten Weltkriegs sowie andereseits das arbeitsame Leben der Musiker des Mangin-Quartetts beschreiben, Briefe, die die Militärhierarchie und die täglichen Lebensbedingungen der Frontsoldaten verurteilen. Am 16. Mai 1915 schreibt er : "Liebe Mutti, ich weiβ nicht, welches Schicksal mich erwartet,... wenn ich aber sterben sollte,... dann solltest Du Dich für Kinder, Musiker interessieren ; kümmere Dich um junge Violinisten, unterstütze sie, es wird Dein Leben ausfüllen, und mich gewissermaβen weiterleben lassen". Und am 12. Juni des selben Jahres : "Wir haben hier zehn unvergeβliche Tage erlebt, das letzte Wort des Schreckens".
Lucien Durosoir und André Caplet verbrachten zusammen diese schrecklichen Jahre, und ihre Freundschaft wurde hier besiegelt, sowohl in den Schützengräben wie in den Rückzugsposten, wo sie musizierten. Immer mehr bekräftigt sich bei Lucien Durosoir der Gedanke an das Komponieren. Vorausdenkend an das Kriegsende schreibt er am 12. September 1916 : "Ich werde mit dem Komponieren anfangen, um mich daran zu gewöhnen, mit freieren Formen umzugehen, und ich werde, davon bin ich überzeugt, reiche Frucht bringen". Gleich nach seiner Demobilisierung, Februar 1919, organisiert er seine Zukunft : es kam nicht in Frage, wieder eine Virtuosenkarriere aufzunehmen ; tief betrübt durch die Grausamkeiten, die er gesehen und erlebt hat und vom Menschengeschlecht enttäuscht, sucht er Zuflucht in einem abgelegenen Ort in Frankreich, um sich dem Komponieren zu widmen.
Zwischen 1920 und 1949 lebte er zurückgezogen, weit weg von Paris und den Künstlerkreisen ; so entwickelte er seine eigene Art der Komposition, unabhängig von den vorherrschenden Einflüssen und sehr kühn. André Caplet hielt mit den Komplimenten nicht zurück und schon 1922 schrieb er ihm : "Mit Begeisterung werde ich allen Kameraden von Ihrem Quartett erzählen, das ich tausendmal interessanter finde, als alle Produkte, mit denen uns diese vorlaute Gruppe von Neuankömmlingen belästigen".
Lucien Durosoir hinterlieβ ca. vierzig unveröffentlichten Werke, Stücke für sehr unterschiedliche Besetzungen, Orchester- und Kammermusik, darunter eine Jean Doyen gewidmete Klaviersonate und ein Maurice Maréchal gewidmetes Capriccio für Cello und Harfe ("zum Andenken an Génicourt, Winter 1916-1917"). Ab 1950 setzte die Krankeit seiner Arbeit ein Ende. Er starb im Dezember 1955.